Wie meinst Krise, Spatzl?



Das Erschreckende am Social Distancing ist, dass ich es offenbar die ganze Zeit mache. 

Ich führe aus: Ich verhalte mich den größten Teil meiner Zeit – ohne Not – so, als hätten alle anderen Menschen potenziell eine sehr ansteckende Krankheit und ich müsste die Risikogruppen meines Landes davor schützen, indem ich mich nicht anstecke. Was bedeutet, dass ich viel Zeit allein und zu Hause verbringe. Ich esse allein, schaue allein Fernsehen, lese, gehe allein spazieren und arbeite im Homeoffice für die Uni vor mich hin. 

„Homeoffice“.
Aka: „Bad Banks“ gucken, froh sein, nicht in der Bankenbranche zu arbeiten, froh sein, gar nicht arbeiten zu müssen, Kaffee trinken, Spätzle essen, umdrehen, keine Nachrichten lesen. 

Ich empfinde die selbstauferlegte Quarantäne also nicht als besonders schlimm, was mich an meiner sozialen Kompetenz im Allgemeinen zweifeln lässt. Ich habe eigentlich nicht das große Bedürfnis, jemanden zu sehen. Andere Leute scheinen die soziale Distanz weniger gut wegzustecken. Gut, ich lebe gerade auch nicht völlig allein. Das hilft bestimmt. Die WG des Freundes – der selbst leider als Arzt in der Klinik hängt, die Seuche im Eilverfahren erforscht und die Versorgung sicherstellt – besteht aus netten Leuten, die wie ich jetzt die meiste Zeit zu Hause sind. Man trifft in der Küche aufeinander, schnackt bisschen, isst was zusammen, wenn es passt.

Aber die meiste Zeit verbringe ich doch auf dem Zimmer. Gucke „Bad Banks“ (Die zweite Staffel ist besser als ihr Ruf! I’m looking at you, Die Schaulustigen). Lese Pierre Bayards Buch zu Ende (meh). Fange Martin Suters Buch an (bisher keine Meinung).



Aber obwohl ich sehr gerne lese und mich gut mit mir beschäftigen kann, gehen mir in einem Zimmer, das nicht meines ist, in einer Wohnung, in der ich eigentlich nicht wohne, so langsam die Beschäftigungen aus. Ich hätte doch das Malset kaufen sollen, als ich am Montag in der Stadt war und die Geschäfte noch geöffnet hatten. 

Außerdem gehen mir die Bücher aus. Serien und Filme gibt es natürlich noch zuhauf... aber Stunden am Stück Fernsehen zu gucken macht nur Spaß, wenn man eigentlich nicht sollte. Weil man zum Beispiel eine Hausarbeit zu schreiben hat. 
Langsam bin ich soweit, dass ich tatsächlich mit der Recherche für meine Masterarbeit anfange. Ich weiß – ich bin genauso schockiert. 

„Homeoffice“.
Aka: in der Küche Artikel lesen. Das war’s. Bin schon stolz, wenn ich sie zu Ende lese. 

Apropos Lesen. 
Ich habe mir die ZEIT gekauft am Montag, als „Social Distancing“ noch ein Novum war und fast aufregend. Ich bin durch die Morgensonne zum französischen Bäcker um die Ecke geschlendert,  habe die ZEIT unter den Arm geklemmt, ein paar Croissants gekauft und mich gefreut, endlich mal richtig Muße für die Zeitungslektüre zu haben. 

Was soll ich sagen? Heute ist schon wieder eine neue Ausgabe raus und ich habe die alte noch nicht zu Ende gelesen. Wenn ich theoretisch den ganzen Tag die ZEIT lesen könnte, lese ich maximal einen Artikel pro Tag. Alibimäßig trage ich sie trotzdem mit mir durch die Wohnung und hinterlasse eine Spur halbgelesener Seiten in Bad, Küche und Bett. Nur lesen tue ich sie nicht mehr. 

ZEIT letzter Woche und ein neues Tagebuch. 

Dafür habe ich sehr eifrig in ein neues Tagebuch geschrieben. Viele Gedanken hatten kein Zuhause in den letzten Monaten, worauf ich eine Teilschuld für meinen holprigen – obwohl hochmotivierten – Start in 2020 abwälze. 

Kieler Förde auf Abendspaziergang. 

Insgesamt bin ich aber merkwürdig glücklich seit ein paar Tagen. Ich empfinde einen (trügerischen?) inneren Frieden in der halbfreiwilligen Isolation.

Keine Verpflichtungen. Keine Termine. Einfach mal so anti-sozial sein dürfen, wie ich eigentlich immer bin, ohne mich dafür schlecht fühlen zu müssen. In sich gehen zu können, ohne es als selbstsüchtig empfinden zu müssen. Um mit den Worten des ewigen Stenz zu sprechen: „Wie meinst Krise, Spatzl?“


Mitunter werde ich dem Arzt seine ganzen Bücher weglesen. Oder ich leihe mir was von den Mitbewohnern...? Vielleicht sortiere ich auch ihre Küche neu, staube das Gewürzregal ab oder bohnere die Dielen. Gestern habe ich zwei Maschinen gewaschen, aufgehängt und zusammengelegt.

Ich koche jeden Abend. Karottentarte mit Rucolasalat, Käsespätzle, Kartoffelpuffer mit Räucherlachs und Feldsalat, Ratatouille mit auf der Haut gebratenem Lachs, Vollkornwraps mit vielerlei Füllung. Nichts Aufregendes, aber ich gehe endlich meinem Neujahrsvorsatz, mehr für andere zu kochen, nach. Außerdem bin ich, so wenig ich mich auch am Stück konzentrieren kann, mit den Büchern für 2020 bereits zur Hälfte (10/20) durch. 

Tee trinken. Kann auch einen Nachmittag füllen. 

Insgesamt komme ich mir sozial distanziert merkwürdig ruhig vor.
Ich wünschte einzig, ich hätte eine eigene Wohnung, die ich jetzt mal so richtig auf den Kopf stellen könnte. Macht ja in der eigenen doch mehr Spaß (und Sinn) als in einer fremden. Selbst in der Wohnung des Arztes in Hamburg könnte ich jetzt viel besser eskalieren als hier.

Aber sei’s drum. Machen wir das Beste draus. Yoga, lesen, schreiben, recherchieren. Ein neues Konto wollte ich auch mal einrichten und Lotto schuldet mir 5€ (mein Gewinn aus dem einzigen Mal, das ich Lotto gespielt habe). Vielleicht melde ich mich bei der Aktion Mensch Lotterie an. Oder ich miste meine Festplatte aus. Oder ich höre Musik und mache gar nichts davon. (Unwahrscheinlich. „A bissl was geht immer.“) 


Ein letzter Schlussgedanke, bevor ich mir Frühstück mache: 

Ich bin, wie so oft bei negativen Entwicklungen in den letzten Jahren, auch diesmal wieder über die Maßen angetan vom Humor, den sie befeuern und befruchten. Trump, Brexit, COVID-19... alles sehr, sehr unschön. Aber Witzigkeit kennt keine Grenzen! 

Wärmste Empfehlung: Marc Marons neues (und auch sein altes) Special auf Netflix. 

Kontaminationsfreier Kuss aus Kiel
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Kissy

Kommentare

  1. wieder mal toll geschrieben...jeder muss im Moment seinen Weg finden.

    wenn ich beten würde, würde ich jetzt dafür beten, dass der Albtraum so schnell wie möglich vorbei ist, der gerade unsere welt auf den schlag und nachhaltig verändert.
    alles was wir tun können ist #stay@Home und ansonsten Abstand, ruhig bleiben und hoffen. Kuss Papa

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