Bücher des Augusts: Berliner Nächte sind vor allem heiß

Hatte ich mich noch im Juli über einen verregneten Sommer beklagt? Ich nehme alles zurück. Nichts ist schlimmer als schwüle Hitze in der Hauptstadt der Bekloppten und Bescheuerten.

Jean Birnbaum: Jacques Derrida: Learning to Live Finally. The Last Interview (2007) 



Es handelt sich hierbei um den Abdruck des letzten Interviews mit einem der berühmtesten französischen Philosophen, Jacques Derrida, welcher (laut Wikipedia) aufbauend auf Heidegger die Theorie der Dekonstruktion ausarbeitete. Also die Auffassung, dass... also, ich habe gerade versucht, Dekonstruktion zu verstehen und bin gescheitert. Also googlet es selbst, wenn ihr es wissen wollt. Ich habe das schmale Büchlein mit dem Interview mal auf halber Treppe gefunden, als ich noch in Moabit wohnte. 

Ich weiß nicht, ob Jean Birnbaum ein guter Journalist ist, aber zumindest schreibt er wunderschöne Einleitungstexte. Sein Vorwort war so ziemlich das einzige, was ich in dem Buch wirklich verstanden habe. Es geht um Großes (Globalisierung, das Leben, das Schreiben, etc.) und Derrida drückt seine Gedanken so kompliziert aus, dass mir beim Lesen schwindelig wird. Es ist immer wieder etwas schön Tiefsinniges dabei, mit dem sogar ich etwas anfangen kann (z.B. das von Walter Benjamin übernommene Konzept, dass es einen Unterschied zwischen dem bloßen „Überleben“ und dem „Fortleben“ gibt). Aber der Rest ist wohl eher etwas für Derrida-Fans, die einen privaten Einblick in das Gehirn des großen Philosophen so kurz vor seinem Tod wünschen. Wenn ich das Vorwort richtig erinnere, starb Derrida wenige Monate nach seinem Gespräch mit Birnbaum, was dem Interview natürlich eine besondere Signifikanz gibt. 

Jakob Arjouni: Idioten. Fünf Märchen (2003) 



Die Bekloppten und Bescheuerten ertragen half hat mir vor allem dieses Buch. Ich hatte es vor Jahren mal aus der Bibliothek ausgeliehen, für einen Sommerurlaub in Kent mit der Familie. Und dann, Jahre später, als Mängelexemplar gekauft. Ich liebe die Bücher des Diogenes Verlags. Sehen immer unheimlich schick und schlau aus, selbst, wenn sie neben dem Klo stehen. 

Arjouni erzählt fünf moderne Märchen, in denen eine Fee verschiedene Leute besucht und ihnen jeweils einen Wunsch erfüllt. In engen Grenzen: Liebe, Gesundheit, Geld sind ausgeschlossen. (Und noch etwas viertes?) Arjouni macht sich so charmant über die Idiotie der Menschen lustig – weiß überhaupt jemand von uns, was gut für ihn ist? – dass man ihm seine Boshaftigkeit kein bisschen übel nehmen kann. Die Märchen sind brutal, nachdenklich, urkomisch. Vor allem das letzte ist in Tragikomik nicht zu überbieten. Ich bin froh, mir das Buch nochmal gekauft zu haben. 

Leonard Mlodinow: Subliminal. How Your Unconscious Mind Rules Your Behaviour (2013) 


Dieses Sachbuch bekam ich von einer engen Freundin geschenkt; ich glaube vor ein oder zwei Jahren. Es ist genau so brilliant, wie sie versprochen hatte. 

Der Autor ist eigentlich theoretischer Physiker, hat aber in diesem Buch alles Wissenswerte über das Unbewusste zusammengetragen. Man sagt jetzt wohl „unbewusst“ statt „unterbewusst“, um es von den Konzepten von Freud zu unterscheiden. Das Ganze mit den unterdrückten Wünschen, mit seiner Mutter zu schlafen, ist nämlich wohl Unsinn. (So genau habe ich mir nicht alles gemerkt, okay? Es waren sehr viele, teilweise sehr komplizierte Fakten.) Das Unbewusste aber, das steuert uns ganz gewaltig im Alltag, und zwar ohne dass wir es bemerken. 

Deshalb werden Männer immer noch vor Frauen für Führungspositionen bevorzugt – und die Manschen, die das tun, denken wirklich, sie handelten auf Basis objektiver Faktoren (Erfahrung, Zeugnisse, etc.). Tun sie aber nicht, was man durch Experimente herausgefunden hat. Genauso wenig können wir die Hautfarbe einer Person ausblenden. Wir versuchen es, aber unser Gehirn kommt uns in die Quere. Wir lügen, wenn wir unsere Schulnoten wiedergeben sollen, wir glauben, weniger zu essen, als wir tatsächlich tun, wir halten uns selbst für überdurchschnittlich, damit wir nicht depressiv werden, überschätzen systematisch unsere Fähigkeiten und halten unser Fußballteam für besser, wenn es gewinnt – wenn aber der Gegner gewann, lag es vermutlich am geschmierten Schiedsrichter oder an Glück. Wenn wir auf ein Pferd gewettet oder eine Aktie gekauft haben, sind wir der Meinung, dass wir die besten Gewinnchancen mit dieser Wahl haben – und nicht andersherum. Wir alle schwindeln im Zeugenstand, wenn auch nicht absichtlich. Wir glauben, Dinge erlebt zu haben, und sind felsenfest davon überzeugt... obwohl ein Psychologe sich das Ganze nur ausgedacht und uns eingeredet hat, es sei so gewesen. Wir blenden Dinge aus, beschönigen andere, erfinden Fakten – und denken doch, die Wahrheit zu sagen. 

Ich merke gerade, wieviel ich bereits nicht mehr erinnere. Ich glaube, ich muss das Buch nochmal lesen. 

Gag am Rande: Subliminale Nachricht auf dem Cover, die man (also ich) erst nach wochenlanger Lektüre bemerkt.

Polly Vernon: Hot Feminist (2015)

Auch ein kontroverses Buch, genau wie letzten Monat The Motion of the Body Through Space von Lionel Shriver. 

Vernon wurde mit einem Artikel bekannt, in dem sie die Vorzüge ihrer (sehr, sehr) dünnen Figur pries. Sie sei eher durch Zufall dünn geworden, liebe es aber über alle Maßen und gebe sich viel Mühe, ihre Magerkeit zu erhalten. Es mache sie glücklich. (Ich kriege schon beim Schreiben dieser Zeilen Hunger.) Vernon behauptet, vielen Frauen ginge es so und wenn wir uns vormachten, nicht dünn sein zu wollen, nun ja, dann machten wir uns eben etwas vor. 

Soweit, so trivial. Es folgte ein Internet-Shitstorm, wie zu erwarten war. Und schließlich das Buch Hot Feminist. In diesem Buch fragt Vernon sich, ob ihre Obsession mit ihrem Äußeren (neben Figur auch Haare, Make-up, Ausstrahlung etc.) ihr im Wege steht, wenn es um feministische Ziele und Gedanken geht. Sie findet: nein. Viele andere Feminist*innen finden: aber hallo. 

Ich stehe in dieser Debatte generell eher auf Vernons Seite (eine Frau ist nicht weniger Feministin, nur weil sie ihre Beine lieber rasiert mag und gern mit Make-up experimentiert), finde ihre Argumentation aber oft schwach und ihren Schreibstil bestenfalls gewollt „flippig“. Im Kapitel über Körperhaare (ja, es gibt eins) gibt sie zu, sich ausschließlich für Männer zu rasieren, weil sie befürchtet, die fänden sie sonst gruselig, irgendwie abartig. Auch der Mann, mit dem sie zusammenlebt. Und gibt zu, dass das sehr umfeministisch von ihr sei. Diese Ehrlichkeit schätze ich, halte die Grundhaltung aber trotzdem für falsch. Warum sollte man Männer nicht manchmal gruseln? Ist doch lustig. Und so abhängig, wie Vernon vom männlichen Urteil ist, wollte ich auch nicht sein. Die eigene sexuelle Anziehung zu einem Universalziel zu erheben mag eine Weile lang für Bestätigung sorgen, aber bereits in Vernons Alter (wird nicht völlig klar, aber Anfang bis Mitte Vierzig ist in etwa richtig) wird es zum Problem, wenn man mit Zwanzig- und Dreißigjährigen um die Aufmerksamkeit von Männern konkurrieren muss. Klar, es ist nett, hin und wieder vom anderen Geschlecht für die eigene Schönheit beachtet zu werden. Aber ich kann glücklicherweise sagen, dass ich noch nie das Gefühl hatte, das hinge von meiner Körperbehaarung ab. Wenn ein Mann so beschränkt in seiner ästhetischen Wahrnehmung ist, dass ein paar Achsel- oder Beinhaare eine Frau unmöglich werden lassen, dann ist er eh nichts für mich.

Viele Rezensenten machen Vernon dafür nieder, dass sie jahrzehntelangen Kampf gegen das Patriarchat lächerlich mache. Ich finde, das kann man gar nicht. Außerdem vergessen diese Rezensenten, dass sich Vernon neben den ganzen albernen Mode-Tipps und ihrer Besessenheit mit dem Dünnsein auch mit den Mitteln und Wegen einer emanzipierten Partnerschaft auseinandersetzt. Dass sie die Gender-Pay-Gap anprangert, härtere Strafen für Vergewaltigung fordert und Frauen dazu ermutigt, ein sexuelles Subjekt zu sein anstatt nur ein Objekt. Man könnte meinen, das widerspreche ihrem Bedürfnis, gesehen zu werden. Ich finde allerdings, dass sie sehr gut erklärt, warum sie gerne flirtet und daher die Aufmerksamkeit der Männer, die sie mag, sucht. Und wie sie sich selbst früher zum Sexobjekt degradierte (als Barfrau mit Wonderbra) und es ihr irgendwann auf die Nerven fiel. Letztendlich findet Vernon es wichtiger, inhaltlich für Frauenrechte einzustehen, anstatt äußerlich die Arbeit an sich selbst aufzugeben, um besser in das Bild einer Feministin zu passen. Für mich erscheint das etwas überflüssig. Wir befinden uns in der vierten Welle des Feminismus – da sind Attraktivität und Feminismus kein Widerspruch mehr. Ich persönlich habe auch gar kein Problem damit, mich als Feministin zu bezeichnen – so wie Vernons Freundinnen, die sie zitiert. (Die sind allerdings auch alle schon in den Dreißigern und Vierzigern, nehme ich an... vielleicht ist das Stigma altersabhängig?) Für mich heißt es jedenfalls: Natürlich bin ich Feministin. Gibt es Alternativen? 

Letztendlich kann man sagen: Das meiste, was Vernon zu sagen hat – wenn nicht alles – konnte man besser formuliert und vor allem Jahrzehnte früher bereits bei Nora Ephron lesen (s. Beweisstück A). An dieser Stelle beschreibt Nora Ephron, dass sie als politikinteressierte und engagierte Feministin trotzdem ihre Haare und Augen wichtig finden kann. Ein Sentiment, das ich vollständig und allumfassend unterstütze und weshalb ich auch Vernon nicht absprechen würde, Feministin zu sein und sich dennoch alle Körperhaare zu entfernen. 

Beweisstück A

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