Der Traum vom leeren Schreibtisch

Mein Schreibtisch ist voll. 

Ungeschöntes Photo meines Schreibtischs, während ich diesen Text beginne. 

Stifte, Post-its, Bücher, Zettel, Belege, Taschentuch, Notizbücher, Wochenkalender, Ladegeräte, Handy, AirPods, Gläser, oft auch noch eine Tasse, Snacks... 

Der Trend des Minimalismus ist in den letzten Jahren häufig diskutiert und kritisiert worden. Marie Kondo, Gretchen Rubin und viele andere Lifestyleberater empfehlen uns, loszulassen, was keine Freude macht. In einem der letzten Zeitmagazine schrieb Sophie Passmann eine gute Kolumne über die sogenannte „Capsule Wardrobe“, die sie für ein Privileg der Reichen hält.*

Kolumne von Sophie Passmann im Zeitmagazin


Es ist bei dem ganzen Minimalismustrend ja nicht nur so, dass man sich nach Leere sehnt. Man sehnt sich vor allem nach der Abwesenheit des Unschönen. Plastikflaschen, benutzte Tempos, rumliegende Socken, eine volle Spüle, Haare im Waschbecken, hässliche oder peinliche Bücher** im Wohnzimmer (ja, die gibt es) – all das sind unschöne Dinge. Die sollen bitte nicht zu sehen sein, obwohl sie natürlich in jedem Haushalt (täglich) stattfinden. 

Aber darüber hinaus geht es um die Herstellung einer Zen-haften, beruhigenden Leere, die uns in einen Zustand der ewigen Glückseligkeit versetzen soll. Zumindest stelle ich mir das so vor. Wenn ich einen leeren Schreibtisch hätte, würde ich jeden Tag mindestens 8 Stunden arbeiten. Ich wäre mit meiner Masterarbeit schon längst fertig und würde mich voller Ruhe und innerer wie äußerer Gelassenheit schon mit dem nächsten Projekt beschäftigen (d.h. der Jobsuche, die im momentanen Klima selbst bei sehr gelassenen Menschen Schweißausbrüche verursacht. Kleiner Wortwitz da, trotz dieser todernsten Realität). 

Letztens schrieb ich dem Freund dies hier: 


Und er schreibt zurück, weil er süß ist: 


Ich freute mich, dachte aber weiter nach. 

Warum möchte ich einen Schreibtisch haben, zu dem ich nunmal nicht neige? Weil ich dann effektiver arbeiten würde? Vielleicht. Weil es besser aussieht? Auch. 

Aber bisher funktioniert dieses kreative Chaos trotz meiner Zweifel offenbar. Immerhin habe ich ein Studium erfolgreich so abgeschlossen, in mehreren Praktika ähnlich gearbeitet und es lief auch im Masterstudium ziemlich rund, ohne dass mein Schreibtisch angefangen hätte – im übertragenen Sinne – „Om“ zu chanten. (Schiefe Metapher, aber das ist hier ja nicht die ZEIT.) 

Eigentlich sieht er so schlecht ja auch gar nicht aus. Bunter halt. Strubbeliger. 


Manchmal stehen Blumen drauf.  




Der Schreibtisch ist in meinem Fall – wie vermutlich in vielen – ja auch nicht nur Arbeitsplatz. Oft gucke ich vom Bett aus auf dem Schreibtisch-Monitor Serien, weil das so viel bequemer und weniger einsam ist, als im großen Wohnzimmer allein auf die Couch umzuziehen. Ich verbringe meine Tage momentan fast ausschließlich im Schlafzimmer, welches gleichzeitig das Arbeitszimmer ist.

Manchmal nehme ich auch an Zoom-Meetings aus dem Bett teil. Wer sich nicht beteiligen muss, ist klar im Vorteil. 

Wo ich auch meinen Laptop aufgeklappt habe – einen leeren, minimalistischen Schreibtisch hatte ich nie. 

Berlin-Lichtenberg, Küche, August 2020

Kiel, WG-Zimmer des Freundes, März 2020

Ein klares Muster ist erkennbar: Kaffee und Wasser scheinen unabdingbar. So auch jetzt gerade, während ich diesen Post zu Ende schreibe. 

Ich werde wohl nie einen tadellos aufgeräumten Schreibtisch haben. Und das ist auch okay. Ich habe vor ein paar Tagen angefangen, „Get Organized“ auf Netflix anzuschauen. Zwei Frauen (eine klassisch „Type A“ mit langem Stock im Arsch und sehr überspannt, mit der anderen würde ich ein Bier trinken gehen) räumen bei anderen Leuten auf. Und zwar nicht sanftmütig und vorsichtig wie Marie Kondo, sondern in einer Ein-Tages-Hauruck-Aktion. Das Ergebnis ist, meinem Geschmack nach, nicht immer ästhetisch ansprechend, dafür ist es zu basic und kahl, aber zumindest generalstabsmäßig – man könnte auch sagen: zwanghaft – organisiert. Viele durchsichtige Plastikkisten für Schuhe, die T-Shirts hängen in Regenbogenordnung, Erinnerungen und Sentimentales kommen in opaque Boxen mit Beschriftung, die Schals werden zusammengerollt, was angeblich „happy“ aussieht, bei mir aber anfallartigen Ausschlag und Schnappatmung auslöst, weil Motten von eng geschichteter Kleidung angelockt werden; außerdem werden sie doch total krumpelig! (Mütter werden mir zustimmen.) Schals möchten, so bin ich der festen Überzeugung, vorsichtig gefaltet und möglichst luftig aufgebahrt werden.

Aber es geht nicht um die Schals. Diese absolute Ordnung, diese durchsichtiges-Plastik-und-jeden-Winkel-ausnutzen-Effizienz, die gehen mir ab. Ich fände es zwar schon ganz praktisch, eine bessere Ordnung in meinem Schrank zu haben. Bestimmt nutze ich den Platz nicht ideal aus. Aber darüber hinaus finde ich finde es auch schön, wenn es zwar einigermaßen ordentlich ist, aber dennoch die Persönlichkeit der Bewohner zum Ausdruck kommt. Deshalb liebe ich alte Möbel, Erbstücke, Dinge, die zwar rumstehen, dabei aber eine Geschichte erzählen. Viel mehr Spaß, als eine neue Vase zu kaufen – was, versteht mich nicht falsch, total Spaß macht – bringt es doch, eine Vase auf der Straße oder auf dem Flohmarkt oder, noch besser, auf dem Speicher bei Oma zu finden. Wenn da dann Tulpen drin stehen, machen sie mich noch fröhlicher. 

Und so ist auch mein Schreibtisch Ausdruck meiner Persönlichkeit. Die Blumen, die Getränke, die vielen angefangenen Bücher, das Zettelchaos, durch das ich aber immerhin einigermaßen durchblicke, eine Kerze für ein bisschen Gemütlichkeit (sehr wichtig beim Arbeiten im Winter, vor allem, wenn er so grau ist wie dieser). 



Wir sind schon okay so wie wir sind, will ich damit sehr umständlich sagen. 

„STET“ sagte letztens die amerikanische Autorin Glennon Doyle Melton in einem Instagramvideo. Diese Abkürzung kommt aus dem Lateinischen und bedeutet so viel wie „Lass es stehen“. Man schreibt es als Autorin an eine Anmerkung der Lektorin, wenn man eine Änderung nicht übernehmen will, weil einem der eigene Text schon gut genug gefällt. 

STET. 

Passt scho. Lassen wir’s stehen. (Und zwar sowohl im wörtlichen, als auch im übertragenen Sinn.)

Kissy 


* Die Kolumne von Sophie Passman findet man auch hier: 
https://www.zeit.de/zeit-magazin/2020/54/minimalismus-capsule-wardrobe-kleidung-alles-oder-nichts

** Hässliche oder peinliche Bücher sind unter anderem folgende: 50 Shades of Grey, viele, auch gute, Ratgeber und Frauenbücher – gemein, aber wahr – und leider, leider viele deutschsprachige Bücher. Amerikaner und Engländer binden ihre Bücher cooler, hübscher, farbiger und ansprechender. Und günstiger sind sie auch, weil es keine Buchpreisbindung gibt. Nichts gegen die Buchpreisbindung – olé, olé Buchpreisbindung – aber sie ist einer der Gründe, warum ich sehr froh bin, die meisten Bücher, die mich interessieren, in Originalsprache lesen zu können. Weil ich möchte, dass ein Buch mich unterhält, intellektuell fordert und optisch anspricht. Ich bin eine anspruchsvolle Leserin, auf allen Ebenen. 

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