Gemischte Tüte #3

Schritte und Schlaf 

Photo vom 6. Juli 2018, als ich gerade bei einer Filmproduktion ein Praktikum machte

Ich bin süchtig nach Bestätigung. 

Nichts Neues, aber letztes Jahr hat sich dieser Wunsch nach Anerkennung zum ersten Mal ins Digitale verlagert. Es sind nicht Likes, auf die ich aus bin – ach, wie profan. 

Nein. Ich möchte, dass meine Health App stolz auf mich ist. 

Im Juli 2018 kaufte ich eine Schrittzähler-Uhr, weil ich sie beim Freund schick fand. Ich trug sie manchmal, war gelegentlich gelinde überrascht, wie wenige Schritte ich machte, und ignorierte sie ansonsten. 

Im März 2020 wurde alles (im wahrsten Sinne des Wortes und in mehrerlei Hinsicht) anders. Ich fand heraus, dass die Health App meines Handys sich mit meiner Uhr verbinden kann und Deutschland ging in einen Lockdown. Auf einmal wurde mir nicht nur klar, dass ich sehr wenige Schritte mache, sondern vor allem, wie wenig ich mich überhaupt bewege, wenn ich nicht zur Uni laufe, nachmittags vielleicht noch zur Bib und dann schnell etwas um die Ecke einkaufen muss.

Ich setzte mir also das Schrittziel der üblichen 10k und begann, jeden Tag sinnlos spazieren zu gehen. Ich erreiche das Ziel bis heute nicht jeden Tag, aber immerhin liegt der Wochendurchschnitt inzwischen oft über 9.000.

Die Süddeutsche Zeitung empfahl letztens in ihrem Newsletter einen Artikel, in dem der Autor sich darüber mokiert, die Wissenschaft könne sich nicht darauf einigen, wieviele Schritte nun zu mehr Gesundheit führen: „Man macht im Grunde immer den entscheidenden Schritt zu viel oder zu wenig, aber welcher das ist und wann, wird man nie erfahren.“*

Ich finde das kapriziös und kleinkariert. Jeder Schritt mehr ist ein Gewinn, würde ich dagegenhalten. Und wenn die App mich motiviert, mich mehr zu bewegen, und das schon seit einem halben Jahr mit gutem Fortschritt, finde ich das umso besser. 

2 Stunden 24 Minuten dauerte der Mittagsschlaf, der mich auf die zusätzliche Funktion meiner Uhr brachte 

Anfang Januar habe ich entdeckt, dass meine Uhr auch meinen Schlaf aufzeichnen kann, wenn ich sie dabei anlasse. Die totale Überwachung kennt jetzt keine Grenzen mehr. Scheiß auf Bill Gates und seine Microchips – ich erledige das jetzt alles selbst, indem ich die Uhr nur noch zum Duschen abnehme. 




Naja, so ganz stimmt das auch wieder nicht – immerhin fängt die Uhr irgendwann an, unangenehm zu riechen wenn man sie zu selten abnimmt. Daher sind meine Aufzeichnungen nicht lückenlos und ich habe die Uhr zur Zeit der Niederschrift schon ein paar Tage nicht mehr nachts getragen. Aber spannend ist es schon, mal ein genaueres Bild davon zu bekommen, wie man über eine Woche schläft. 

Ist mir sehr langweilig? 

Kann schon sein. Willkommen im zweiten Lockdown! Nehmt Platz. Kann eine Weile dauern. 
 

Parasite 

Wie immer „late to the party“, aber besser spät als nie: Habe mir den oscarprämierten Film Parasite angeguckt. 

Und fand ihn... durchwachsen. Schöne Kameraarbeit, spannende Story, die bis zuletzt fesselt. Vielleicht sollte ich in sehr groben Zügen die Handlung schildern, ohne sie zu spoilern: eine arme Familie trickst eine reiche Familie aus, sodass sie alle Familienmitglieder als Hausangestellte beschäftigt. Dann passiert Unerwartetes. 

Mein Problem war, dass der Film mich genau da gekriegt hat, wo er mich kriegen wollte. Die reichen Leute sind zwar unsympatisch, überspannt und völlig weltfremd, aber sie sind noch gerade so erträglich. Ein paar der armen Protagonisten sind aber so absolut unerträglich in ihrem verzweifelten Wahn, dass ich an einigen Stellen den Ton ausgestellt und sogar hier und da ein bisschen vorgespult habe. 

Und genau das ist eben das Problem: Ich soll diese Leute abstoßend finden, damit ich mich ertappt fühle und erkenne, wie schlimm ich Armut finde und wie schrecklich das ist. Sie sind von der Gesellschaft unverschuldet in die Abgründe getrieben worden, aus denen sie jetzt wie Schreckgestalten aufsteigen und Leid und Schmutz über das schöne Leben der Reichen bringen. Sie sind schrill und laut und gewalttätig und unförmig und käsegesichtig und Alkoholiker. 

Sie sollen mich abstoßen. Und weil ich das weiß, schäme ich mich auch tatsächlich etwas dafür, dass sie es tun. Ich weiß, was der Film will, und es funktioniert trotzdem. Aber ich kann mir nicht helfen – ich möchte das nicht sehen. Menschliche Abgründe: ja. Aber keine hässlichen Abgründe. Das ist oberflächlich und elitär von mir, aber es ist nun mal die Wahrheit: Wenn jemand schon unangenehm im Charakter ist, soll er wenigstens aussehen und klingen wie Mads Mikkelsen („Hannibal“). Oder Rosamund Pike („Gone Girl“).  

Abgesehen davon: Sehr gut gemachter Film, keine Frage, und durchaus sehenswert. Aber er nimmt einen schon sehr mit, weshalb ich ihn auch nicht unbedingt empfehlen würde. Aber wer ihn die ganze Zeit schon mal gucken wollte, sollte es tun. 

Virgin River 

Und nun zum Gegenprogramm. 

Angefangen hat alles bei meinem Umzug von Berlin nach Hamburg Ende November. 

Laptop auf Umzugskisten in Berlin-Rummelsburg

Ich wollte nach einem langen Tag, an dem ich Kisten gepackt habe, etwas gucken, dass mich entspannt. Und siehe da: Mel, diese sehr hübsche, sympathische, wahnsinnig weiße Krankenschwester war auch gerade umgezogen, von Los Angeles ins ländliche Virgin River. Das passt doch, dachte ich (ebenfalls sehr weiß). Mel muss sich direkt nach ihrer Ankunft mit ganz, ganz schlimmen Problemen herumschlagen: das Haus, das ihr zur Verfügung gestellt wird, ist heruntergekommen und schmuddlig und ihr Chef ist gemein zu ihr. Puh. 

Es stellt sich allerdings bald heraus, dass wir doch Mitgefühl mit Mel haben sollten, denn sie hat etwas sehr Traumatisches in ihrer jüngsten Vergangenheit erlebt, das sie zu dem Umzug bewegt hat. 

Die Serie ist völlig harmlos. Es gibt einen Quotenschwarzen, ein paar rüstige, grummelige alte Leute, mehrere Frauen mit halb-gut gehüteten Geheimnissen, eine Gruppe Krimineller im Wald, die für die nötige Dramatik sorgen und eine resolute, völlig indiskrete Bürgermeisterin, die sich in alles einmischt. Die Atmosphäre hat was von Gilmore Girls, allerdings langsamer und mit mehr Natur. 

Der eigentliche Grund, warum ich drangeblieben bin und vorgestern die letzte Folge der zweiten Staffel geguckt habe ist aber ein Mann names Jack Sheridan. 

Ich habe ein einfaches Gemüt. Der Mann ist quasi der noch sehr viel attraktivere Luke (männlicher Protagonist in Gilmore Girls). Ihm gehört eine Bar, aber er kann keinen Cosmopolitan mixen (?!), dafür hat er PTSD von seinem Militärdienst. Er ist unrasiert und funktional muskulös und hat dabei wahnsinnig schöne Haare. 

Mel und Jack

Und er trägt – natürlich! – Flanellhemden. Er kann Holz hacken und vermutlich auch jagen und mit ihm kommt man durch den Winter, vermute ich. Er würde einem ein Haus bauen und es beheizen und einen zur Not in einen selbstgeschlachteten Bären wickeln, wenn es zu kalt wird. Er ist ein MANN. Salt of the earth, sagt man auf Englisch (so in etwa: „rechtschaffen“, aber mit einem kräftigen Schuss Bodenständigkeit.)  

Jack... hach. 


Ist es falsch, einen Mann dafür attraktiv zu finden, dass er solche stereotypischen Männlichkeitsideale erfüllt? Ich finde, solange er reizend zu älteren Menschen und Servicepersonal ist (check), nicht findet, dass Frauen nach der Ehe nicht arbeiten sollten (check), sich selbst nicht für etwas Besseres hält (check) und auch ansonsten ein sympathischer, toleranter, aufgeklärter Kerl ist, darf man ruhig ein bisschen sabbern, wenn er mit seinen starken Armen ein Kind in den Schlaf wiegt. Jack Sheridan hätte niemals Trump gewählt. Jack Sheridan kümmert sich um seine Mitarbeiter. Jack Sheridan interessiert sich dafür, was Frauen im Kopf haben, nicht nur darauf. Jack Sheridan, meine Damen und Herren, ist ein amerikanischer Held. 

A Walk Down Memory Lane 


Ich habe im Podcast Happier with Gretchen Rubin einen netten kleinen Trick gelernt, mit dem das Ausmisten des Photoalbums auf dem Handy richtig Spaß macht. Eine von Rubins Hörerinnen hatte ihr den Tipp gegeben, einfach das aktuelle Datum in die App einzugeben, damit sie alle Photos zeigt, die über die Jahre an diesem Datum gemacht wurden. So unternimmt man eine kleine Zeitreise, kann überflüssige Screenshots löschen oder Photos, die man nicht mehr braucht, und hat auch noch Spaß dabei. Ein richtiger kleiner „Glücksbringermoment“.

„I’m homesick for the city I live in, and I miss the clothing I already have“



Zu guter Letzt habe ich gerade einen Artikel von Rachel Syme** ausgelesen, in dem sie über die Kleidung schreibt, die sie 2020 nicht getragen hat. Glitzertops, Jeans mit hohem Bund, Schuhe mit festen Absätzen, etc. Ich empfinde sehr ähnlich wie sie. 

Zwar ziehe ich seit einigen Monaten jeden Morgen normale „Straßenoutfits“ an, obwohl ich nirgends hingehe – weil es mich einfach deprimiert, wenn ich den Tag in Jogginghose, Sportoutfit oder gar Pyjama verbringe. Aber ich gebe mir nicht viel Mühe, geschweige denn mache ich mir Gedanken um den modischen Mehrwert meiner „Looks“. Jeans, Pullover, dicke Socken, Hausschuhe. Fertig. Kein Schmuck, nur die erwähnte Schrittzähler-Uhr. 

Mein Anblick langweilt mich. Und doch bringe ich nicht so recht den Willen auf, daran etwas zu ändern. Ringe nerven, weil man sie zum Händewaschen ablegen muss. Ketten hängen im Schal. Ohrringen in den Kopfhörern. Warum sollte ich eine Strumpfhose und einen Rock anziehen, wenn es eine Jeans auch tut? Ich kleide mich für andere Leute, soviel ist mir jetzt klar. Nicht für Männer – ahaha – sondern hauptsächlich für andere Frauen, die die Feinheiten meines Stils zu schätzen wissen. Schminken tue ich mich für mich selbst, aber die Outfits sind für die Ladies. 

Ich habe dann Anfang letzter Woche doch wieder einen zaghaften Hauch Mode in mein Leben gelassen, um mich selbst aufzuheitern; in Form eines Diane-Keaton/Annie-Hall-artigen Krawattenschals auf meinem weißen Hemd. Weil ich nämlich auch New York vermisse – obwohl ich, anders als Syme, da gar nicht wohne – und die Klamotten, die ich bereits habe. 



Kissy   


* https://sz-magazin.sueddeutsche.de/gesundheit/schrittzaehler-laufen-gehen-fitnessarmband-87854

** https://www.newyorker.com/culture/2020-in-review/a-year-without-clothes

Kommentare

  1. es gibt nichts, was mich mehr amüsiert als Deine Texte, mein Schatz! Ich habe Tränen gelacht ! Weiter so !

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